(Achtung, langer Text)
Heute, am 04.02.2018, ist Weltkrebstag. Florian Müller von MyTherapy bat mich, die angefügte Grafik zu veröffentlichen, denn „Mit der Grafik wollen wir auf die fortschrittliche Entwicklung bei den Krebs-Überlebensraten aufmerksam machen und damit auch Ihre so wichtige Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit unterstützen und diese anerkennen. Denn wir glauben, dass mehr Bewusstsein und Aufklärung ein Schritt in die richtige Richtung sind und es außerdem wichtig ist, Menschen mit Krebserkrankungen zu unterstützen und Ihnen Mut zu machen.“
Ich darf mich glücklich schätzen, denn ich bin gesund. Auch in meiner Familie und im Freundeskreis gibt es keine Krebserkrankungen. Doch fast täglich arbeite ich mit Krebspatienten zusammen. Überwiegend sind es Patientinnen, die nach Lymphknotenentnahme Probleme mit Ödemen (Schwellungen) haben. Ich behandle sie mit Manueller Lymphdrainage. Ebenso habe ich auch Patienten, deren Allgemeinzustand nicht gut ist, die noch sehr geschwächt sind durch die Chemo etc. Diesen Patienten zeige ich allgemeine Kräftigungsübungen; ich versuche sie wieder auf die Beine zu bringen.
Während meiner Arbeit lernte ich vor fast 6 Jahren Wiebke kennen. Wiebke hatte Brustkrebs. Sie hatte die Operation schon hinter sich gebracht – Lymphknoten und die betroffene Brust waren entfernt worden – als sie das erste Mal zu mir in die Praxis kam. Zum Glück hatte sich kein Ödem entwickelt; die Behandlung war eher vorbeugend. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, obwohl sie 13 Jahre älter war. Wiebke war unternehmungslustig, lebensfroh, wir hatten den gleichen Musikgeschmack und interessierten uns beide für Fußball. Während der MLD (Manuellen Lymphdrainage) hatten wir immer viel zu reden und zu lachen, obwohl der Grund ihrer Besuche bei mir natürlich keiner zum Lachen war. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie eines Tages ganz niedergeschlagen war. Ich war richtig erschrocken und befürchtete schon, dass sie eine schlimme Diagnose bekommen hatte. Nein, das war es nicht. Stattdessen erzählte sie mir das ganze Drama ihrer Liebesbeziehung. Sie hatte eine Art Off-On-Beziehung zu einem verheirateten Mann und zu diesem Zeitpunkt war es mal wieder off gewesen.
Wiebke bekam Chemotherapie, ihr fielen die Haare aus. Sie wurde bestrahlt und ihre Haut verbrannte. Alles ganz normale Nebenwirkungen. Doch sie besiegte den Krebs.
Wiebke kam weiterhin wöchentlich zur MLD. Ihr ging es besser, zwischenzeitlich war sie wieder mit ihrem On-Off-Freund zusammen, war mit ihm im Urlaub gewesen. Sie war glücklich, denn er akzeptierte und liebte sie und ihren Körper auch mit nur einer Brust. Dennoch wollte Wiebke den Brustaufbau machen lassen. Sie freute sich, einen tollen Arzt gefunden zu haben. Dieser wollte nicht nur die Brust mit ihrem Bauchfett auffüllen; er wollte dann auch direkt eine Fettabsaugung mit Bauchdeckenstraffung durchführen. „Dann hat das Ganze ja doch noch was Gutes“, grinste Wiebke, als sie mir davon erzählte.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Alle Voruntersuchungen waren abgeschlossen, der ersten von mehreren Operationen stand nichts mehr im Wege. Die Ärzte hatten schon Bauch und Brust geöffnet für den Eingriff – und fanden dabei Metastasen. So winzig, dass sie bei den Untersuchungen nicht zu sehen waren. Aber sie waren da!
Also wieder Chemo und wieder fielen die Haare aus. Und nochmal Bestrahlung und nochmals verbrannte die Haut. Wiebke trug es mit Fassung. Ihre Freunde und Eltern waren für sie da, was mit ihrem On-Off-Freund zu dem Zeitpunkt war weiß ich nicht mehr. Doch sie machte schon wieder Pläne. Konzerte, Fußballspiele, Reisen,… sie wollte noch so viel erleben.
Und sie besiegte den Krebs erneut.
Was man als außenstehende Person nicht mitbekommt und unterschätzt, ist die ewige Angst vor der erneuten Erkrankung. Ich glaube, dass man sie durchaus ausblenden kann, aber jeder Kontrollbesuch beim Arzt weckt diese Angst wieder. Und wieviel Zeit für die eigene Gesundheit drauf geht: Kontrollbesuche beim Arzt, Onkologen, manuelle Lymphdrainage, Psychologe, Heilpraktiker, Osteopath… Je nach dem was nötig ist.
Wiebke kam weiterhin regelmäßig zur MLD und es entwickelte sich eine Art Freundschaft zwischen uns. Ich kannte ihr ganzes Liebesdrama und sie erlebte meine Soldatengeschichte live mit (wie sie ihn für seine erfundene Krebserkankung hasste!). Zu der Zeit war sie mir genauso Therapeutin wie ich ihr, denn sie kannte mich und merkte, wie schlecht es mir damals ging. Und mir tat es gut, mein Leid einer völlig neutralen Person zu klagen.
Mittlerweile hatten die Ärzte wieder mit dem Brustaufbau bei Wiebke begonnen. Sie hatte schon ein oder zwei Operationen hinter sich, als die Beschwerden begannen. Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen. Ein Arzt schob es auf Nackenverspannungen, einer sagte ihr, dass es psychosomatisch sei. Dennoch machte man ein Schädel-CT, welches unauffällig war. Das war einerseits eine Erleichterung, doch irgendwoher mussten die Probleme doch kommen. Wiebke hatte Angst! Und endlich fand sie einen Arzt, der sie ernst nahm. Ein Arzt, der nicht sagte „Wir müssen gucken, ob da was ist“, sondern ein Arzt, der schaute wo der Krebs war. Denn dass der Krebs zurück war, war Wiebke klar. Und tatsächlich fand man Krebszellen im Gehirn. (Und ausgerechnet jetzt ging es privat aufwärts: ihr On-Off-Freund hatte sich offiziell von seiner Frau getrennt.)
Die Ärzte machten Wiebke wenig Hoffnung, dass man sie erfolgreich behandeln würde. Man könne versuchen zu bestrahlen…. Doch Wiebke gab die Hoffnung nicht auf. Durch die Bestrahlung verlor sie ihre Haare (die dank der Chemo nicht mehr blond sondern grau waren) und die empfindliche Kopfhaut verbrannte. Doch es geschah ein Wunder: in der Nachuntersuchung war kein Krebs mehr erkennbar. Wiebke hatte den Krebs besiegt.
Eine „Freundin“ fragte Wiebke einige Wochen später, ob sie nicht allmählich wieder arbeiten wolle, ob ihr das krankfeiern nicht allmählich peinlich wäre. Wiebke war schockiert. Diese Freundin hatte sie seit Wochen nicht gesehen; die Frage kam per Whatsapp. Jeder, der Wiebke zu der Zeit besuchte, konnte sehen wie schlecht es ihr ging. Das bestrahlte Gehirn schmerzte, sie litt weiterhin unter Schwindel, Übelkeit und Sehstörungen. Ihre Dachgeschosswohnung konnte sie kaum verlassen, da sie nicht mehr Treppe steigen konnte und in ihrer Wohnung ging sie am Rollator. Wiebke hatte den Krebs zwar besiegt, aber gesund war sich nicht.
Wir pausierten mit der MLD. Stattdessen bekam Wiebke jetzt Krankengymnastik mit Hausbesuch. Wir machten einfachste Kräftigungsübungen, die sie immer wieder vergaß, da durch die Bestrahlung das Gedächtnis gelitten hatte. Doch es wurde besser. Irgendwann übten wir Treppensteigen und sie ging mit ihren Eltern regelmäßig am Rollator draußen spazieren.
Letzten Sommer schenkte sie mir zum Geburtstag einen Gutschein für ein gemeinsames Eisessen. Wir kamen nicht mehr dazu, diesen Gutschein einzulösen, denn ihr Zustand verbesserte sich kaum. Die Ärzte rieten ihr zur Geduld, so eine Bestrahlung würde eben auch Schaden anrichten. Wir wollten irgendwann Eisessen, wenn sie sich gut fühlte, ganz spontan wollte ich sie in mein Auto setzen und in die Stadt fahren. Es wurde Winter und wir wollten das Eis durch Kuchen ersetzen, doch Wiebkes Kopf- und Nackenschmerzen nahmen wieder zu. Sie musste wieder ins Krankenhaus und wir brachen alle physiotherapeutischen Behandlungen ab. Sie bekam eine neue, schlechte Diagnose. Metastasen in der Halswirbelsäule. Viel mehr weiß ich nicht, denn hier brach der Kontakt weitestgehend ab. Sie reagierte nicht mehr auf meine Nachrichten. Ich gehe davon aus, dass sie ihre Zeit mit ihren engsten Freunden und ihrer Familie verbringen wollte (nicht mit ihrem Freund, von dem hatte sie sich endgültig getrennt, denn sie hatte gemerkt, dass ihre Gefühle nicht mehr reichten).
Aus dem Nachruf entnahm ich, dass sie sich gegen weitere Therapien entschieden hatte.
Wiebke starb an Weihnachten.
Was ich damit sagen will? Ich weiß es selbst nicht. Wiebke hat tatsächlich in den 5 Jahren nach ihrer ersten Diagnose den Krebs 3x überlebt. Das sechste Jahr hat sie nicht geschafft. Ja, die Überlebenschancen sind gestiegen und dennoch sterben noch viel zu viele Menschen an dieser scheiß Krankheit.
Furchtbar wie hartnäckig diese scheiß Krankheit ist…
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Ja…
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meine grosse liebe starb im august 2016 auch an krebs. wir haben 5 jahre gekämpft. einmal hiess es auch so schön, dass alles weg sei und einen monat später haben sie dann einen faustgrossen, inoperablen tumor gefunden inkl. metastasen. wir haben bis zum schluss gekämpft und nie aufgegeben.
krebs ist ein arschloch!
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Das tut mir Leid für dich.
Es ist Wahnsinn, wozu die Medizin heutzutage im Stande ist. Und genauso wahnsinnig ist es, wie zerstörerisch trotzdem diese Krankheit ist.
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Mein Vater starb letztes Jahr im Juli an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Diagnose kam im Januar. Da in meiner Familie Krebs häufig auftritt, beschäftige ich mich schon sehr lange damit. Ich war deshalb auch schon beim Human Genome Project in Boston. Krebs wird häufig durch Viren ausgelöst(HPV und vermutlich bestimmte Rinderviren). In unseren Genen ist außerdem Virenmaterial abgelegt, welches aktivierbar ist (Onkogene). Der Tumor selbst stößt Botenstoffe aus, die den Körper zum Selbstabbau bringen. Alle Muskeln Fettgewebe etc. wird unerklärlicherweise einfach abgebaut bis nichts mehr übrig ist. Das ist die häufigste Todesursache bei Krebs (Kachexie).
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Interessant, das wusste ich noch nicht.
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Die wenigsten Leute wissen was Krebs wirklich ist. Man kann durch diesen Mechanismus an einem Tumor mit 3 cm Größe sterben. Deshalb ist es so wichtig, die Tumore zu entfernen. Krebs sollte Schulfach werden, genauso wie Psychologie und Geldmanagement. Das sind Themen, die Jeden betreffen.
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Nicht unbedingt krebs als schulfach, sondern Medizin/Gesundheit im allgemeinen. Wievielen Menschen musste ich schon erklären, dass Lymphknoten nichts schlechtes sondern lebensnotwendig sind
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Mensch, wie krass. Was für eine schreckliche Krankheit, was für ein Schicksal. 😦 Ich bin grad gleichermaßen froh, selbst weder persönlich noch im Umfeld betroffen zu sein und entsetzt, weil es ja wirklich jeden jederzeit treffen kann.
Nur eine kleine Anmerkung: Im unteren Abschnitt ändert sich der Name der Frau. Falls du sonst einen Decknamen und dort den richtigen Namen verwendet hast, magst du es vielleicht ändern?
Viele Grüße,
Ellen
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Danke 😉
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Das rührt mich im Inneren so an, dass ich keinen schlauen Kommentar dazu schreiben kann noch möchte. In meiner Familie gibt es alle möglichen Krebsarten (teilweise in einem Körper vereint). Ich wünsche mir, dass ich, bevor ich weggefressen werde, das WESENTLICHE erlebt habe.
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Wiebkes Geschichte macht mir Angst. Denn ich habe gerade den Brustkrebs „besiegt“ und wollte eigentlich optimistisch in die Zukunft blicken.
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Das tut mir Leid… Angst machen wollte ich eigentlich nicht. Eher sensiblisieren, dass wir uns nie sicher sein können.
Ich wünsche dir alles Gute und ganz viel Gesundheit für deine Zukunft.
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Danke dir. Das Gefühl unbesiegbar zu sein verliert man bereits bei der Diagnose.
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„wie wollten das Eis durch Kuchen ersetzen“ … wir?
LG Max
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